Liebe Börsianerinnen, liebe Börsianer,
in diesen politisch sehr schwierigen Zeiten hat diese Börsenweisheit wieder einmal Hochkonjunktur. Politische Börsen haben kurze Beine. Was meinen Börsianer mit diesem Satz eigentlich?
Generell soll uns diese Weisheit sagen, dass politische Ereignisse die Entwicklung der Aktienkurse langfristig nicht wesentlich tangieren. Ist das wirklich so?
Eine differenzierte Antwort: Dieser Satz gilt vor allem in der Innenpolitik. So ist es für uns als Börsianer nur mäßig relevant, ob in Berlin oder Wien gerade die Schwarzen, Roten, Türkisen oder Gelben am Ruder sind. Vor allem für Deutschland, Österreich oder auch die Schweiz spielt wirtschaftspolitisch betrachtet für uns die Musik im Ausland, da unsere börsennotierten Unternehmen wesentlich vom Export leben. Ich wiederhole: Innenpolitik ist folglich für die Aktionäre von Nestlé, Daimler, Wienerberger und anderen Export-Unternehmen nicht wirklich relevant.
Ein Beispiel: Im ersten Kabinett Gerhard Schröder wirkte damals der Sozialdemokrat Oskar Lafontaine als Superminister für Finanzen und Wirtschaft. Seine Programmatik war – sagen wir – semi-sozialistischer Natur. In der Folge blieb der deutsche Aktienmarkt signifikant hinter anderen europäischen Aktienmärkten zurück.
Letztlich passte Lafontaine allerdings nicht wirklich in den eher marktwirtschaftlich orientierten politischen Konsens in Deutschland und wurde daher vom Bundeskanzler aus dem Kabinett nach einigen Monaten wieder entfernt. Der DAX holte seine Under-Performance sehr rasch wieder auf. Ein typisches Bespiel: Das politische Ereignis blieb langfristig ohne jeden Einfluss auf den Markt.
Gilt nun diese Weisheit auch vor dem Hintergrund des Ukrainekrieges? Ja und Nein! Es ist völlig offensichtlich, dass der Einmarsch der Russen in die Ukraine eine andere Dimension hat als das Intermezzo des Oskar Lafontaine. Denn hier sind wir – sofern nicht noch ein Wunder geschieht – Zeuge einer dramatischen Zeitenwende. Russland hat sich aus der Weltwirtschaft verabschiedet und steuert nun zielbewusst dem Abgrund entgegen.
Es ist unklar, ob sich russische Wertpapiere von diesem Schock in den nächsten Jahren wieder erholen werden. Einige Unternehmen wie etwa die Sberbank sind derart angeschlagen, dass sie nun wohl voll verstaatlicht werden müssen. Der eskalierte Ukrainekonflikt hat auch in vielen Depots zu erheblichen Umschichtungen geführt. So setzen Anleger heute und wahrscheinlich auch noch in den nächsten Quartalen auf zuvor weniger gesuchte Branchen wie Rüstung, Öl, Stahl oder Versorger. Klassische Risikoaktien etwa aus dem NASDAQ-Segment stehen erst einmal zurück.
In diesem Fall hat die (Geo)Politik also längere Beine und wird nachwirken. Trotzdem gilt: Sehr bald werden sich die Börsianer wieder anderen Faktoren zuwenden. Dann haben westliche Unternehmen ihr Russland-Geschäft abgewickelt und abgeschrieben. Spätestens dann werden wir uns beispielsweise wieder mit der Geldpolitik befassen oder den aktuellen Quartalszahlen.
Fazit: Als Börsianer sollten wir schon einen gewissen politischen Instinkt mitbringen und große Umbrüche und Zeitenwenden erkennen. Zwei Beispiele: 1939 im September marschierte die deutsche Wehrmacht in Polen ein. Wer sich damals in europäischen Aktien eingedeckt hatte, war nicht gut beraten, denn anschließend entfaltete sich der 2. Weltkrieg als großer Wohlstandskiller für fast ganz Europa. Wer hingegen 1989 für die wirtschaftliche Dimension der bevorstehenden Wende in Mittel- und Osteuropa ein Näschen hatte, der hat sich in den Folgejahren richtig satte Kursgewinne eingeschoben.