Liebe Börsianerinnen, liebe Börsianer,
heute vor genau einem Jahr sind die ersten russischen Raketen in Kiew eingeschlagen. Wenig später rückten Bodentruppen aus Belarus auf die ukrainische Hauptstadt vor. Es war oder ist eine Zeitenwende. Erstmals seit 1945 gehört der Krieg wieder zum Mittel der Politik in Europa. Mehr noch: Es ist nicht nur irgendein Krieg um Territorium. Die Auseinandersetzung trägt Züge eines Vernichtungskriegs. Es geht um Kultur, es geht um Identität, die möglichst von der Landkarte getilgt werden soll.
In dieser Woche hat der russische Präsident Wladimir Putin erklärt, dass man den letzten Vertrag (New Start) zur Begrenzung atomarer Waffen aussetzen wird. Die praktische Relevanz dieser Maßnahme hält sich kurzfristig sicherlich in Grenzen. Dennoch am Horizont winkt uns neues Wettrüsten, das auch Nuklearwaffen mit einschließen kann.
Gleichzeitig beharrt Peking auf seiner Forderung nach der Rückführung der sog. abtrünnigen Provinz Taiwan. Die einstmals eher defensive Macht China trumpft in der Region unverhohlen auf, um das eigene Terrain großzügig zu markieren. Viele Anrainer des Südchinesischen Meeres halten im Zusammenspiel mit den USA dagegen. So wird man die US-Militärbasen etwa auf den Philippinen wieder ausbauen.
Es gibt in diesem Punkt keine zwei Meinungen mehr. Wir sind im Kalten Krieg 2.0 angekommen. Für die Ukrainer ist er schon sehr heiß.
Vor diesem Hintergrund fragen sich viele Börsianer, kann uns der Kapitalmarkt in solchen Zeiten – jenseits der Rüstungsaktie – überhaupt noch auskömmliche Renditen liefern? Ich antworte differenziert.
In den 90er Jahren des vergangenen Jahrhunderts, als die Großmächte sich in großen Schritten freundlich annäherten, um gemeinsam Handel zu treiben, haben wir die sog. Friedensdividende, also eine Form der Extrarendite kassiert. Osteuropa und Teile Asiens öffneten sich für den freien Handel, der Markt und damit das Umsatzpotenzial der Unternehmen nahm zu.
Diese günstige Konstellation ist endgültig vorüber. Mutmaßlich wird sie auch zu unseren Lebzeiten nicht mehr zurückkehren. Gleichwohl haben auch die Börsianer des ersten Kalten Kriegs großartige Haussephasen gefeiert, Dividenden kassiert und Aktien mit großem Gewinn verkauft. Selbst auf dem Höhepunkt der Kuba-Krise 1962 wurden Wertpapiere gehandelt und konnten wenig später zu attraktiven Kursen verkauft werden.
Oder Beispiel Deutschland 1945: Als im April die Amerikaner in München eingerückt sind, hat die Münchener Börse als letzte deutsche Börse den Handel suspendiert. Bereits im September wurden die Börsianer jener Zeit bei der zuständigen Besatzungsbehörde vorstellig und erwirkten eine Wiederaufnahme des Handels. Die ersten Aktientransaktionen fanden damals übrigens in einem Zelt statt, das eine lokale Bierbrauerei gestellt hatte. Wenig später starteten wir dann die mächtigste Hausse der deutschen Börsengeschichte, in den Trümmern unserer Städte und mitten im Kalten Krieg.
Das ist die Stärke unseres Systems, die Stärke der Unternehmen und der Börsianer. Man findet selbst unter widrigen Umständen immer einen Weg, um Geld zu verdienen. So haben Deutschland und Österreich binnen weniger Monate russisches Pipeline-Gas erfolgreich durch Flüssiggas substituiert. Und ein europäisches Frachtflugzeug mit Destination China umfliegt eben zurzeit den russischen Luftraum. Das ist natürlich nicht ganz optimal, aber Geld wird trotzdem verdient.
So gilt: Der Ukrainekrieg ist eine große humanitäre Katastrophe, der Kalte Krieg 2.0 ist sehr bedauerlich und für uns alle überflüssig. Für die Börse aber gilt: Die Show geht weiter, und auch im Kalten Krieg werden wir unsere Gewinne einstreichen.
Mit freundlichen Grüßen
Alexander von Parseval
Analyst und Vermögensberater
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